Titel
Tvangssterilisation i Danmark 1929-67.


Autor(en)
Koch, Lene
Erschienen
Kopenhagen 2000: Gyldendal
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
DKr 399,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Thomas Etzemüller, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Nach "Racehygiejne i Danmark" 1 hat Lene Koch mit "Tvangssterilisation i Danmark 1929-67" nun den zweiten Teil ihrer Untersuchung über die dänische Sterilisierungspraxis zwischen 1920 und 1967 vorgelegt. Hat sie in ihrem ersten Werk vor allem die Genese der drei Sterilisierungsgesetze und die Entwicklung der wissenschaftlichen Eugenik analysiert, so will sie in ihrer neuen Publikation den Blick auf die Sterilisierungspraxis richten.

Wer sich unter dem Begriff "Praxis" eine Alltagsgeschichte der Zwangssterilisierungen erhofft, wird enttäuscht. "Praxis" bezieht sich hauptsächlich auf den Expertenstreit um die Umsetzung der Sterilisationsgesetze. Koch hat offenbar ein immenses Aktenmaterial verarbeitet, doch schlägt sich das hauptsächlich in detaillierten Statistiken und Graphiken im Anhang des Buches nieder. Die Opfer gewinnen nur selten Profil; Lilly Larsen als Ausnahme rückt vor allem deshalb in den Blick, weil ihr Fall der Öffentlichkeit die inhärenten Probleme der Sterilisierungsgesetzgebung und interne Differenzen der Praktiker sichtbar gemacht hat (S. 237-262). Der gesellschaftsgeschichtliche Kontext, der für einen allmählichen Wandel der eugenischen Praxis mitverantwortlich war, wird nur rudimentär angedeutet. Erneut wird dagegen ausführlich auf die einzelnen Gesetze eingegangen, dadurch kommt es zu zahlreichen Überschneidungen mit ihrem ersten Buch (beide Bücher lassen sich unabhängig voneinander lesen und hätten besser zusammengefaßt werden sollen).

Trotzdem ist "Tvangssterilisation" ein unverzichtbares Buch. In "Racehygiejne" stellte Koch den merkwürdigen Zwiespalt der Wissenschaft in den Vordergrund, einerseits von der Vererbbarkeit geistiger Degeneration und sogar sozialer Eigenschaften überzeugt zu sein, andererseits diese Vererbbarkeit aber nicht beweisen zu können. Das führte gleichzeitig zu einer Forcierung wie Bremsung der eugenischen Praxis. Dasselbe arbeitet sie in ihrem neuen Buch für die Experten, die für den Vollzug der Sterilisierungen verantwortlich waren, heraus. Das Gesetz von 1934 erlaubte die (Zwangs-)Sterilisierung Geistesschwacher, ohne allerdings die eugenische Indikation vorzusehen. Das Gesetz von 1935 erlaubte die freiwillige Sterilisierung Nicht-Geistesschwacher, auch mit Hilfe eugenischer Gründe. Somit war das Sterilisierungswesen zweigeteilt, und kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, daß unterschiedliche Institutionen mit der Ausführung der Gesetze betraut wurden und der Begriff "geistesschwach" nicht geklärt war.

Wann war eine Person als geistesschwach, wann als "sinker", d.h. auf der Grenze zwischen "normal" und "geistesschwach" stehend, einzuordnen? War ein IQ von 75 eine sichere Grenze? Wie zuverlässig waren IQ-Tests? War das "Habituskriterium", d.h. die Einschätzung sozialen Verhaltens als Indiz für Geistesschwäche, ein adäquates Meßinstrument? War Geistesschwäche prinzipiell behandelbar oder bei den meisten Patienten biologisch determiniert? Auf Grund der unterschiedlichen professionellen Prägungen der Experten kam es zu zahlreichen Konfliktlinien: Juristen bestanden aus Gründen des Rechtsschutzes auf einer restriktiven Anwendung der Gesetze, Rechtsmediziner zweifelten an der IQ-Grenze 75, die Ärzte der Østifternes Anstalten hielten Geistesschwäche für heilbar, die Ärzte der Keller'schen Anstalten befürworteten eine extensive Sterilisationspraxis. Kaum einer aber stellte das damalige Schreckensszenario, daß vor allem die leicht Geistesschwachen sich überproportional vermehrten, dadurch den dänischen Volkskörper mit Degeneration bedrohten und deshalb durch Sterilisation an der Fortpflanzung gehindert werden müßten, prinzipiell in Frage. Weder war die Vererbbarkeitstheorie belegt, noch machte man sich die Mühe, den Effekt eugenischer Maßnahmen empirisch zu prüfen. Man vertraute auf die Zukunft, die sowohl die Vererbbarkeit wie den Erfolg belegen werde.

Der Eugenikbegriff mag in der Theorie logisch paradox gewesen sein - nach dem Geistesschwachengesetz von 1934 wurde in 43% der Patienten auf Grund einer (teil-) eugenischen Indikation sterilisiert, obwohl das Vererbungsrisiko nicht bestimmbar war; bestimmt werden mußte es aber nicht, weil dieses Gesetz die eugenische Indikation ja nicht vorsah -, jedoch nicht in der Praxis: "Erbliche Belastung" stand als Symbol für soziale (und psychische) Abweichung. Deshalb ersparte man sich oft die schwierige Diagnose, ob ein Individuum tatsächlich geistig krank war und erhob stattdessen umfangreiche Datenbestände über das soziale Verhalten der Verwandtschaft, die anschließend eugenisch gedeutet wurden, also als Indiz für Geistesschwäche. Doch obwohl sich die sterilisierungswilligen Ärzte meist durchsetzten, führten professionelle Konkurrenz, das heterogene Sterilisierungswesen, die Diskussion um das "Habituskriterium" und der "Quotientenstreit" um den IQ 75 auf Dauer dazu, die Probleme sichtbar zu machen. Aus Unsicherheit geboren war auch das merkwürdige Verhalten, daß man wirkliche Zwangsoperationen lieber vermied - obwohl sie zugelassen waren - und sich stattdessen des Einverständnisses selbst der geistesschwachen und für unmündig erklärten Patienten zu versichern suchte - notfalls mit latentem Zwang. Vormünder sollten ausdrücklich die Interessen der Patienten wahrnehmen, wurden aber von vielen Ärzten als lästiges Hindernis empfunden. Viel Energie wurde investiert, die "falschen" Vormünder abzuweisen und "richtige" Vormünder zu bestellen. Das wiederum wurde von übergeordneten Behörden kritisiert, und obwohl das ganze System in der Schußlinie der Kritik stand und die Sterilisierungen kaum beeinflußte, wurde es peinlich genau eingehalten.

Es ist nicht ganz leicht, in Kochs Buch das Geflecht der unterschiedlichen Protagonisten, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Zusammenhängen mal konträre, mal übereinstimmende Standpunkte einnahmen, zu durchschauen. Doch es wird die charakteristische Ambivalenz deutlich, daß trotz aller Widersprüche und professioneller Bedenken (Zwangs-)Sterilisierungen bis 1967 durchgeführt wurden, weil man Degenerationsgefahr und Vererbarkeitsthese für Realität hielt - und gleichzeitig wurde gerade wegen dieser professionellen Bedenken Zurückhaltung geübt und zahlreiche Ansuchen um Sterilisation abgelehnt. Die Macht der Experten beschleunigte den Prozeß, die Macht der Professionen bremste ihn, zum Glück vieler, die der Sterilisation entgingen, und zum Unglück vieler, die trotzdem sterilisiert wurden.

Koch kreist immer wieder um den widersprüchlichen, nicht geklärten Eugenikbegriff und arbeitet heraus, wie er sich im Laufe der Zeit änderte, und daß er 1945 durchaus nicht diskreditiert war. Die Skepsis vom Beginn der 30er Jahre war mit Kriegsende der Überzeugung gewichen, daß Eugenik notwendig und akzeptabel sei und bald wissenschaftlich fundierbar sein werde - von der nationalsozialistischen Ideologie hatte man sich in Dänemark stets abgesetzt, so meinte man, die Grenze zwischen akzeptabler und verwerflicher Eugenik markiert zu haben. Auch die Frage des Zwangs taucht immer wieder auf, und Koch zeigt, daß Zwang ein vielfältiges Phänomen war, das je nach Kontext zwischen Druck, Drohung, Versprechungen und Betrug schillerte. Durch diese Differenzierungen wird es Koch möglich, eine "indignationens historiografi" (S. 13) zu vermeiden. Sie will nicht moralisieren, sondern verstehen, wie man damals dachte, um der heutigen Genetik den Spiegel vorzuhalten. Diese verstehe sich wie die frühere Eugenik als wertfrei, werfe jener aber den Zwangscharakter vor, um selbst in besserem Licht zu erscheinen. Im Gegensatz zu "Racehygiejne" vertieft Koch mögliche Parallelen zwischen Eugenik und Genetik diesmal jedoch nicht. Und da sie nur die verwickelten fachlich-strategischen Diskussionen analysiert, ohne den geistigen Horizont der Zeit und der Protagonisten zu rekonstruieren, ist ihr Verständnis für die damaligen Eugeniker nicht ganz nachvollziehbar. Sie haben gedacht, wie sie dachten - aber wieso eigentlich so und nicht anders? Wieso haben die Widersprüche das System nicht schon eher implodieren lassen? Welche Rolle spielte die Öffentlichkeit, die von Koch auf nur einigen wenigen Seiten behandelt wird?

Kochs Verdienst ist es, den widersprüchlichen Prozeß: die Entwicklung von der Mainline- zur Reformeugenik, von der Bevölkerungspolitik zur Zentrierung auf das Individuum, von der Sterilisierung Geistesschwacher zur Sterilisierung "überarbeiteter" Mütter, herausgearbeitet zu haben, ohne dies in das Paradigma des "Fortschritts", der "Humanisierung" oder einer retrospektiven Verdammungsgeschichte zu zwängen 2. Zahlreiche Tabellen und Diagramme schlüsseln die im Text beschriebenen Sterilisierungsfälle detailliert auf; eine Summary für beide Bücher sowie ein Personen- und - lobenswerterweise! - ein Sachregister schließen den Band ab.

Anmerkungen:
1 Lene Koch: Racehygiejne i Danmark 1920-56. Kopenhagen 1996 (und nun in leicht revidierter Neuauflage). Vgl. meine Rezension dieses Buches in: H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, April 2000. URL: http://www.h-net.msu.edu/reviews.
2 Frauen stehen bei Koch - im Gegensatz zu Maija Runcis' Buch "Steriliseringar i folkhemmet" ausdrücklich nicht im Vordergrund (S. 81). Aus den Tabellen und Fallbeschreibungen geht aber klar hervor, daß sie die Mehrzahl der Sterilisierungen über sich haben ergehen lassen müssen.

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